Ivan
Nagel
Abwärts
in der Doppelhelix
Zum Stand der Diskussionen um
die Agenda 2010 und ihre Begrifflichkeit - Das
Falschwörterbuch der Sozialreformen / Von
Ivan Nagel
In diesen Tagen und Wochen wird
die schroffste Veränderung unserer Gesellschaft
eingeleitet (die Vereinigung ausgenommen), die der
Bundesrepublik Deutschland in fünfzig Jahren
zugemutet worden ist. Eingeleitet: denn
Wirtschaftsverbände und CDU/CSU meinen, dass die
jetzigen Eingriffe nur den Anfang radikalerer
Veränderungen bilden sollen. Neu sind in der
Geschichte der Bundesrepublik aber nicht nur die
Eingriffe, sondern auch die Grobheit und Wut, mit
denen sie einer amtierenden Regierung abgepresst
werden. Opposition, Verbände, Medien sind seit
zehn Monaten dabei, Kanzler und Kabinett rabiat
weichzuklopfen, um eine neoliberale Gleichschaltung
unseres sozialen Lebens und Umgangs zu
erzwingen.
Als Leser von Zeitungen,
Hörer und Zuschauer staatlicher wie privater
Sender - als Bürger dieser Republik hat mich
eines frappiert: Trotz der Schroffheit der
vorgeschlagenen Maßnahmen, trotz der
Stimmungshitze bei ihrer Durchsetzung - eine
Diskussion über ihre Richtigkeit und
Nützlichkeit fand nicht statt. Von ARD bis RTL,
vom Wirtschaftsteil der SZ und FAZ bis zur
Bild-Zeitung wurden die immergleichen extremliberalen
Dogmen vorausgesetzt und uns eingehämmert.
Alternativen prangerte man schon durch die Wortwahl
an. Diese Wortwahl wirkte unaufrichtig, agitatorisch
irreführend. Das zeitgleiche
Falschwörtergetöse zur Vorbereitung des
Irak-Krieges mochte davon ablenken - oder erst recht
aufhorchen lassen.
Dort hieß der Alleingang
Amerikas Bündnis der Willigen",
Angriffskrieg hieß Entwaffnung". Hier
heißt die Belastung der Armen
Eigenverantwortung" die Kürzung der
Arbeitslosenhilfe zur (gekürzten) Sozialhilfe ein
Anreiz für Wachstum". Das Interesse der USA
an Desinformation hält sich die Waage mit dem
Interesse der Wirtschaft, Nachdenken über sie zu
erschweren. Dass die Falschwörter der
Sozialpropaganda sich aber allmählich noch
dichter ballen als die der Kriegspropaganda, kann nur
eines bedeuten: Der einheimische Streit in der
Gesellschaft ist den Wortfabrikanten (und uns, ihren
Konsumenten) wichtiger, als wenn, laut Goethe,
hinten, weit in der Türkei, die Völker
aufeinanderschlagen".
Über die Effizienz der
Agenda 2010" (oder jener wohlklingenden
Vorschläge zur Entsozialisierung, die weit
über sie hinausgehen) maße ich mir kein
Urteil an. Wie sollte der Nichtökonom ein Urteil
wagen - wenn selbst Ökonomen Schröders
Pläne teils für zaghaft wirkungslos, teils
für einen tapferen ersten Schritt, teils für
ein ungerechtes Abrissprojekt halten? Unser
Geschäft hier ist Sprachkritik. Wenn sich
allerdings die Falschwörter in der Darstellung
einer Sache häufen, packt den Sprachkritiker der
Argwohn, dass etwas in der Sache selbst nicht stimmt.
Doch davon später.
Das Falschwörterbuch der
Sozialreformen muss mit dem Wort Sozialreform"
beginnen. Man stelle sich einen
(SPD-)Wirtschaftsminister vor, der zwischen Schmerz
und Stolz verkündet, er habe wegen
Sparzwängen das Gehalt seiner Sekretärin
reformiert". Die Wirtschaft dürfte die
feinsinnige Formulierung begrüßen. Wir aber
dürfen unser Wörterbuch befragen: Wieso
heißen die Industrie- und Handelsverbände
in Mediendeutsch stets die Wirtschaft", und
deren gesammelte Interessen: der Markt"?
Die Wirtschaft schlägt vor", der
Markt weigert sich" - und wir schlucken es Tag
für Tag.
Wirtschaft und Markt versprechen
sich (und uns) eine neue Blüte Deutschlands durch
Senkung der Lohnnebenkosten". Die Wendung und
ihre landläufige Verwendung legen uns nahe, bei
Nebenkosten" handle es sich um eine
ärgerliche Belastung aller: um Geld, das erst der
Wirtschaft (und uns) abgepresst, dann vom Staat
verschwendet wird. Aufdringlich wäre es, daran zu
erinnern, daß die Bürger dieses Landes in
der Not des Alterns, der Krankheit, des
Arbeitsverlustes einzig von diesen Nebenkosten"
lebten. Man schilt sie Fehlallokation der
Steuereinnahmen": Hat Helmut Kohl sie sechzehn Jahre
lang in Monte Carlo verzockt?
Wer Falschwörter erfindet
und stärkt, muss unser Gedächtnis
schwächen. Neulich riskierte ich ein Experiment.
Ich ging im Wedding, Berlins Arbeiter- und
Kleinbürgerkiez, in drei verschiedene Kneipen und
sprach an der Theke mit Stammgästen. Nebenbei
ließ ich fallen, die rot-grüne
Arbeitslosigkeit" (BZ) sei 1997, im letzten Jahr der
Regierung Kohl, höher als heute gewesen. Einige
lachten mich als Spinner aus, andere wandten sich
grimmig ab; sie erkannten mich als Ex-DDR-Agitator.
Geglaubt hat keiner von den Arbeitern, Arbeitslosen
was ich sagte - was die Statistik sagt.
Diese Statistik kommt in unseren
Zeitungen allerdings nur vor, wenn eine
Arbeitslosen-Kurve irrtümlich in den Neunzigern
statt erst vor drei Jahren beginnt. In einem
Kommentar, geschweige denn im Leitartikel, sucht man
solche Daten umsonst. Sie wären der panischen
Schwarzseherei, dem Jüngsten Gericht über
den Sozialstaat unzuträglich. Ebenso fehlt in
Leitartikeln, Kommentaren, Glossen der
überregionalen Wirtschaftsteile (erst recht in
der Boulevardpresse) der einschlägige
Zahlenvergleich mit den USA - an dem der Nutzen
neoliberaler Gewaltkuren sich am besten
nachprüfen ließe.
In Bushs Amerika ist in vollem
Gang, was für unsere bessere Zukunft
befürwortet und umbenannt wird: Steuersenkung
für Unternehmen und Unternehmer (zu deutsch:
Entlastung der Investoren"), Kündbarkeit
nach hire and fire (Flexibilisierung des
Arbeitsmarktes"), Niedriglöhne
(Differenzierung der Lohnstrukturen"), Senkung
der social security unter das Existenzminimum
(Leistungskürzung für
Arbeitsunwillige"). Das Ergebnis in den USA, das in
keinen deutschen Medien vorkommt: höchste
Arbeitslosigkeit seit acht Jahren; 525000 verlorene
Arbeitsplätze allein zwischen Anfang Februar und
Ende April - der rapideste Schwund in zwanzig
Jahren.
Sprachkritik wird notwendig
zur Sachkritik: Nur wenn die Sache ein Falschargument
zum Kern hat, produziert sie ein Falschwort als
Hülle. Nehmen wir das hübscheste
Beispiel von einem Falschargument: Die Erleichterung
der Kündigung wird mehr Arbeitsplätze
bringen. Nur weil jede Kündigung einen
Arbeitsplatz abschafft, statt einen zu schaffen,
entsteht der publizistische Bedarf, sie zur
Flexibilisierung des Arbeitsmarktes" zu
verklären.
Es wäre zu kurz gedacht,
ein sinnwidriges Argument auch für sinnlos zu
halten. Flexibilisierung des Arbeitsmarktes"
plus Differenzierung der Lohnstrukturen"
(erleichterte Kündigung plus untertarifliche
Niedriglöhne) ergeben zusammen einen sehr
fasslichen Sinn: statt mehr Arbeitsplätze
billigere Arbeitsplätze. Pflegt und verwöhnt
man diese Lohnminderungsmaschine mit den drei besten
Schmierölen - Senkung der Sozialhilfe;
Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe;
Arbeitspflicht für deren Bezieher - so wird sich
die Spirale nach unten, eine neue Doppelhelix, noch
schneller in unseren Alltag bohren. Die
Abwärtsbewegung heißt: Globale
Konkurrenzfähigkeit" oder bescheidener:
marktgerechte
Beschäftigungspolitik".
Das vierte Schmiermittel
für eine neue, unsolidarische Gesellschaft steht
schon unter unseren Falschvokabeln:
Eigenverantwortung". Sie meint in kruderer
Sprache: Der Arbeitnehmer muss künftig allein
bezahlen, was bisher zur Hälfte vom Arbeitgeber
eingezahlt und später vom Staat wieder ausgezahlt
worden ist. Will der Arbeitnehmer bei Krankheit oder
Verrentung nicht schlechter versorgt sein als
früher, muss er den Unterschied selber
begleichen. Die Lohnnebenkosten" werden
mithin nicht gesenkt" - sondern
größtenteils (trotz Riester-Zulagen) auf
den Arbeitnehmer übertragen.
Arbeitgeber" und
Arbeitnehmer": Es empfiehlt sich, die beiden Ur-
Falschwörter der deutschen Wirtschaftslehre
näher zu betrachten. Wer seine Arbeit hergibt,
heißt bei uns Arbeitnehmer" - wer sie
nimmt, Arbeitgeber". Mir klang das Begriffspaar
immer nach der Adenauer-Zeit: Man schuf damals neue
Worthüllen, um in ihnen die alten
Klassenkämpfe zu begraben. Doch die Ur-Lüge
stammt (wie unsere besten Lügen und Wahrheiten)
aus dem 19. Jahrhundert. Sie entstand nach dem
Weberaufstand von 1844 und wurde in Bismarcks
Sozialgesetze übernommen. Einer jener beiden, die
man bei uns nicht zitieren darf, schrieb 1873:
Mit Recht würden die Franzosen den
Ökonomen für verrückt halten, der den
Kapitalisten donneur de travail, den Arbeiter receveur
de travail nennen wollte."
Auch diese Sinnwidrigkeit hatte
dazumal ihren guten, bösen Sinn: Der Unternehmer
stellte die Arbeit als seine gnädige Gabe hin;
der Arbeiter nahm das Geschenk dankend entgegen,
wissend, dass seine Arbeit ihm nicht gehört -
weshalb das Schenken jederzeit eingestellt werden
konnte. Heute ist das Begriffspaar ein Gebrauchsobjekt
unseres Alltags; und doch ist es eigentlich veraltet.
Es könnte manchen auf die Idee bringen, dass der
Arbeitgeber schuld daran sei, wenn er keine Arbeit
mehr gibt - dem Arbeitnehmer die Arbeit nimmt. Um
diese Irrlehre zu widerlegen, begann vor fünfzehn
Jahren das Falschwort strukturelle
Arbeitslosigkeit" vorzuherrschen.
Strukturelle
Arbeitslosigkeit": noch 1993-97 hörte man keinen
Terminus häufiger. Auch damals war an der
Arbeitslosigkeit nicht der Unternehmer schuld, der die
Arbeiter einstellte oder entließ, sondern ein
höheres Verhängnis. Dieses moderne Fatum
ging nicht vom globalen Kapitalismus aus, sondern es
traf ihn, schmerzlich aber unabwendbar. Heute ist
alles klar und unmystisch geworden: Schuld an der
Arbeitslosigkeit ist nicht das Schicksal, immer noch
nicht der Unternehmer, sondern der
Bundeskanzler.
Der Staat soll zwar Angestellte
nicht anstellen, sondern entlassen (Abbau der
Bürokratie"), jedoch die Verantwortung tragen,
wenn welche woanders entlassen werden. Wenn
Arbeitgeber heute immer schneller immer mehr
Arbeitnehmer loswerden, heißt das in den
Talkshows: Versagen der rot-grünen
Wirtschaftspolitik". Allzu verständlich ist, wenn
die Regierung mitten im Schröder-Schlachten doch
noch einen Punkt sucht, an dem sie sich mit den
Verbänden und Medien einigen kann. Die
Wirtschaft" (Unternehmer) und die
Wirtschaftspolitik" (SPD-Regierung) haben diesen Punkt
zweifellos gefunden: Schuld an der Arbeitslosigkeit
sind die Arbeitslosen. Knüppelschwerstes
Falschwort: die Arbeitsunwilligen".
Verbände, Medien,
Opposition und Regierung haben noch einen weiteren
gemeinsamen Feind entdeckt. Fassen wir zusammen: Zu
Kohls Zeiten konnte man fast stolz sein auf die
Arbeitslosigkeit: Sie war ein Begleitphänomen der
heilsamen Globalisierung der Marktwirtschaft",
der kybernetisch erstrahlenden dritten
industriellen Revolution". Heute ist sie eine Folge
der Unbelehrbarkeit der Betonköpfe".
Gemeint sind die Gewerkschaften.
Im Falschwörterbuch der
Sozialreformen gehört den Gewerkschaften ein
eigenes Kapitel. Sie trugen bis vor vier Wochen den
Schimpfnamen Egoisten" - weil sie sich angeblich
nur um die Arbeitenden kümmerten, nicht um die
Arbeitslosen. Einerseits: Es ist keine Schande, sich
um die Arbeitenden zu kümmern, sie machen
immerhin noch 92 Prozent des Volkes aus. Andererseits:
Wie sich die Wirtschaft um die Arbeitslosen
kümmert, ist recht eigenartig. Durchlöchert
werden ja nicht nur die Flächentarifverträge
der Arbeitenden (Diktat der Tarifmonopole"),
sondern auch die Lebensgrundlagen der Arbeitslosen:
Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe,
Sozialhilfe.
Streiten aber die Gewerkschaften
(neuerdings) für die Arbeitslosen - dann werden
sie aus Egoisten" nicht etwa zu
Altruisten", sondern zu Blockierern",
Bremsern", Besitzstandwahrern". Der
neoliberale Fortschritt, genannt Belebung des
Wachstums", verlangt es, die Kluft zwischen Reich und
Arm zu vergrößern. Kein Politiker, nicht
Merz oder Stoiber, kann es sich leisten, das klar
auszusprechen. Auch die Medien überfällt
eine plötzliche Dezenz. Nur einige gutversorgte
Wirtschaftsforscher trauen sich, keine Hand vor den
Mund zu nehmen. So der Vorsitzende der Sieben Weisen
Wiegard: Unsere Empfehlungen laufen vorerst auf
eine größere Spanne zwischen den viel und
den wenig Verdienenden hinaus."
Die Kluft zwischen Viel und
Wenig wird am dichtesten mit Falschwörtern
umstellt. Reich" und Arm" dürfen
öffentlich nicht gesprochen, nicht geschrieben
werden. Der Ersatz-Terminus heißt
Besserverdienende". Er verrät sich als
Lügenprägung dadurch, dass er seinen
Gegenbegriff ausschließt.
Schlechterverdienende" gibt es nicht: Armut soll
weder als Faktum der Gegenwart noch als Bedrohung der
Zukunft wahrgenommen werden. Schießt aber damit
die Wirtschaft nicht über ihr Ziel hinaus? Sind
ihr die Armen, außer wenn verelendet, nicht
lebenswichtig? Die deutsche Volkswirtschaft krankt
daran, nur noch vom Export, nicht vom Binnenmarkt zu
leben. Die Milliarden, die man an den Ärmsten
spart - nimmt man sie nicht, Cent für Cent, dem
Binnenmarkt weg? Diese Fragen heißen auf
Falschdeutsch: das unselige
Kaufkraftargument".
Ob wir die
größere Spanne" zwischen Viel und
Wenig wollen: daran muss sich entscheiden, ob wir die
neue Sozialwelt begrüßen oder
verwünschen. Dem Bürger wird schwergemacht,
zu diesem Scheideweg vorzudringen. Denn unsere
Leitartikler und Talkshow-Master suchen die Spannung
beim Schröder-Schlachten immer noch nicht in dem
Problem, ob die Agenda 2010" der Einung oder
Spaltung der Nation dient - sondern ob der Kanzler
seine Partei dazu kriegt, sie in voller Schärfe
anzunehmen. Jetzt und in den nächsten Jahren wird
es aber auf zwei Fragen ankommen: Mit wie viel
Spaltung zwischen Reich und Arm kann eine Demokratie
leben? Und: Wie viel Desinformation des Volkes
verträgt eine Demokratie, ohne dass die
Volks-Herrschaft daran, blind und lahm,
zugrundegeht?
Ivan Nagel, Schriftsteller,
Publizist und Theaterleiter, veröffentlichte
zuletzt das Buch Streitschriften" (Siedler
Verlag)
Original:
©Süddeutsche Zeitung, 29.5.03